Karl May
Als ich zehn war, lag ich mit Blinddarm im Krankenhaus – abgesehen von der zweitägigen Nulldiät eine willkommene Abwechslung zur Tretmühle, als die ich die Volksschule damals betrachtete.
Damals brachten mir meine Eltern den Winnetou 1 mit.
Vor mir lag also ein Schinken auf dem Krankenhausbettdeck: dunkelgrün, 400 Seiten dick, stark fußnotenhaltig – in summa eher abschreckend für mich mäßig motivierten Schüler. Trotzdem fing ich an. Es gab ja sonst nichts zu tun.
Die Erleuchtung
In dieser Woche wurde ich jedenfalls zu der Leseratte, die ich heute noch bin. Von Perry Rhodan über Simmel zu „Fury – das Buch“, ich habe sie alle gefressen.
Der Bruch
In meiner wilden, dramatischen, wahnsinnigen Zeit (kurz: in meiner Pubertät) stieß ich auf „Die Straße der Ölsardinen“ von John Steinbeck. Ich war zugleich fasziniert und erschüttert. Fasziniert von der absolut spannenden Handlung. Erschüttert, weil die Begriffe „lieb“ und „böse“ – obschon in sich stimmig – von meinem damaligen Vorverständnis entschieden abwichen. Ich war, glaub ich, 16.
Danach hab ich irgend einen Karl May angefangen und spontan in die Ecke geschmissen und seither nie wieder angerührt.
Woher diese meine Überreaktion?
Der Hintergrund
Karl Mays lebhafter Erzählstil hatte in mir all die Jahre zumindest die Option offen gelassen, das eine oder andere habe er selbst erlebt. Und bei aller Differenziertheit der Charaktere hatte stets im Hintergrund wachend das Wesen des Wahren und Guten gestanden. Verkörpert durch Charlih oder Kara.
Nach meinem Steinbeck‘schen Schlüsselerlebnis hatte ich nun einen überzeugenden Eindruck von „alles gar nicht wahr, alles nur gelogen“.
Alles relativ
Ich hatte diesen Fehler gemacht: Ich hatte meine Ansprüche an Karl May aus den Ansprüchen von Karl May hergeleitet. Heute sage ich: das war Unfug. Denn, wenn ich seinen Wahrheitsgehalt in Zweifel zog, hätte ich mit seinen Ansprüchen zumindest dasselbe tun sollen.
Was ich hiermit feierlich nachhole.
Zu Karl Mays Wesen gehört seine Geburt in ärmlichen Verhältnissen, zeitweise Behinderung, eine zweifellos lange Reihe von Demütigungen. Die absolut logische Folge ist eine gewisse Überreaktion – seine mehrjährige Laufbahn als zeitweise erfolgreicher Hochstapler.
War das falsch? Nein: richtig! – Für den „Weg des Ehrlichen“, der nicht seiner war, hätte er einen Führer gebraucht – und wäre folglich bestenfalls zweiter geworden. Stattdessen erschloss er sich ein neues Terrain. Er stapelte weiterhin hoch auf Gebieten, die vor ihm kein anderer erschlossen hatte, nämlich in der Literatur.
Heute sehe ich Karl May mit den gleichen Augen, mit denen ich die Figuren in der Cannery Row bzw. Straße der Ölsardinen sah: Mack und die Jungs, den dilettantischen Dichter mit Bootsbauer-Allüren bzw. umgekehrt, die ehrbare Puffmutter Flora und all die andern. Von all ihnen vermute ich, dass es sie so oder anders gegeben hat.
Von Karl May weiß ich es. Chapeau!
PS Die Urheberrechte für Karl May sind ausgelaufen. Die Texte sind jetzt frei verfügbar. Das spricht ja wohl eindeutig für ihn. Oder? Oder?
Nachtrag – Overton berichtet, dass die Deutschen bei den Indianern recht beliebt sind. Und zwar genau wegen Karl May.
Nachtrag 2 – den Ravensburgern ist vor lauter Wokeness das Hirn zwischen die Beine gerutscht, so dass sie Winnetou-Bücher zurückziehen. Woraufhin der Karl-May-Verlag auf Ravensburger losgeht. Ein weiterer Punkt für Karl May.
1.9.2022
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